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Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895)

10 - Wohnort Karl Heinrich Ulrichs 1846/1847

Marienstr. 23, Berlin-Mitte

Karl Heinrich Ulrichs war der erste Aktivist der Homosexuellen Emanzipation. Er gab Schwulen und Lesben erste positive Selbstbezeichnungen und veröffentlichte als einer der Ersten wissenschaftliche Texte zur gleichgeschlechtlichen Liebe. Als Gesetze für ein zukünftiges vereinigtes Deutsches Kaiserreich diskutiert werden sollten, sah er seine Chance den Sodomie Paragrafen zu verhindern und outete sich beim Juristentag als 1. Mensch öffentlich als homosexuell, oder wie er damals sagte als „Urning“.

(dieser Text ist auch im Audio-Clip zu hören)

Karl Heinrich Ulrichs wurde 1825 in Aurich in Ostfriesland geboren und wuchs in der Region Hannover auf. Er studierte Jura in Göttingen als auch 1846/ 1847 ein Jahr in Berlin, dessen Ruf als Ort für Homosexuelle ihm bei seiner Entscheidung sicher bekannt war.

Nach dem Studium trat er in den Hannoverschen Staatsdienst ein. Doch wurde seine Karriere schon 1854 beendet, da sein Arbeitgeber, das Justizministerium, darüber informiert wurde, dass „… der Gerichtsassessor Ulrichs mit anderen Männern widernatürliche Wollust betreibe.“ Ulrichs hatte gegen kein Gesetz verstoßen, da das hannoversche Strafgesetzbuch die gleichgeschlechtliche Liebe nicht kriminalisierte. Wohl gab es aber einen Paragrafen der widernatürliche Wollust und Erregung öffentlichen Ärgernisses verband und unter Strafe stellte. Die Gerüchte über seine sittenwidrige private Lebensführung reichten aus und er reichte seinen Rücktritt ein.

Daraufhin wurde Ulrichs Journalist und schrieb ab 1862 Artikel für die Allgemeine Zeitung aus Augsburg. Die gerade neu entstandenen Bahnstrecken in Deutschland machten eine überregionale Verteilung der Zeitungen möglich.

Er verfasste eine Reihe von Schriften zur gleichgeschlechtlichen Liebe und zu den Auswirkungen der Sodomiegesetze. Er verfasste Rundbriefe, worauf er viele dankbare Rückmeldungen von anderen Gleichgesinnten erhielt, die sich bis dahin mit ihren Gedanken und Gefühlen alleine gefühlt hatten. Er hatte auch das Bedürfnis sich seiner Familie zu erklären, dass es ihm angeboren sei Männer zu lieben. In einem Brief an seine Familie schreibt er, mit schonungsloser Offenheit „Männer die Männer lieben, stellen ein drittes Geschlecht dar, gekennzeichnet durch eine feminine Natur, gefangen im physischen Körper eines Mannes…. Es sei ungerecht, wenn man von ihm erwarte, ein Leben im Zölibat zu führen. Sexuelle Befriedigung sei ein gottgegebenes Recht.“ Es ist bemerkenswert, wie Ulrichs Familie ihn niemals explizit verstieß oder ablehnte, ihn sogar weiter unterstützte, trotz der für die damalige Zeit radikalen wie verstörenden Offenbarung über seine sexuellen Vorlieben.

Im April 1864 veröffentlichte er seine erste Schrift unter Pseudonym. In dieser Schrift führte er den Begriff „Urninge“ ein, abgeleitet vom griechischen Gott Uranus, der als alleiniger Erzeuger der Aphrodite die gleichgeschlechtliche Erotik symbolisiert. Damit gab er Männern, die Männer lieben einen ersten identitätsstiftenden Namen. In einer späteren Schrift führte Ulrichs den Begriff „Urninden“ als Bezeichnung für Lesben ein.

Kernthese seiner Schriften ist, dass die uranische Liebe angeboren oder naturgegeben ist, weder durch Krankheit noch durch willentliche Perversion verursacht, und als solche eine Ausübung nicht kriminalisiert werden kann.

Man kann sagen, dass Karl Heinrich Ulrichs in seinen Schriften auch die queere Identität erfunden hat, indem er als erster formuliert, dass Sexualität ein Teil von einem ist, nicht nur eine Handlung. Er hat Homosexualität als Identität gesehen. Somit legte er die Grundlagen dafür, dass es überhaupt homosexuelle Gemeinschaften geben kann. Und erst durch diese Gemeinschaften ist eine Forderung nach Rechten der sexuellen Freiheit möglich. Seine Veröffentlichungen zeigten ihre Erfolge, die Debatte über den juristischen Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe war in Gang gebracht. Juristen, Ärzte und Wissenschaftler nahmen davon Notiz.

1866 besiegte Preußen im zweiten deutschen Einigungskrieg Österreich und es deutete sich damit an, dass Preußen eine deutsche Einigung anführen könnte. Die Aussicht auf eine baldige deutsche Einigung ließ auch den deutschen Juristentag am  29. August 1867 in München zusammentreffen, um über die benötigten einheitliche Gesetze für das Land zu diskutieren. Der Juristentag war die Bühne für Ulrichs öffentliches Outing, raus aus dem Pseudonym, um Straffreiheit und gesellschaftliche Akzeptanz zu fordern.

Er begann seine Rede, musste sie jedoch wegen lauten Protesten unterbrechen. Ulrichs unternahm einen zweiten Versuch, konnte seine Rede jedoch durch die vielen Protestschreie nicht zu Ende führen. Seine Forderungen wurden vom  Juristentag nicht unterstützt. Doch das weltweit erste öffentliche Outing war vollbracht, die Rede wurde veröffentlicht, der Samen war gesät, das Wort war draußen, der Diskurs war angestoßen.

Da Preußen die deutsche Einigung anführte, beeinflusste es mit seinem Strafgesetzbuch auch das 1871 gegründete Deutsche Reich. 1868 beauftragte Bismarck ein Strafgesetzbuch vorzubereiten, woraufhin eine Kommission damit beauftragt wurde, die Sodomiegesetze zu beurteilen. Im März 1869 legte die Kommission ein Gutachten vor, in dem sie sich gegen Sodomiegesetze aussprach.

. Die Berliner Öffentlichkeit im Jahre 1869 wurde jedoch durch zwei Verbrechen mit Bezug zur Homosexualität beeinflusst. Der Mord an einem Bäckerlehrling im Invalidenpark, der zudem noch vergewaltigt und verstümmelt wurde (1867) und ein schlimmer Missbrauch eines kleinen Jungen durch einen Mann (1869) wurden beide oft in den Boulevardblättern thematisiert.  Die Öffentlichkeit kann Homosexuelle, Pädophile, Sexualstraftäter und Sadisten nicht auseinanderhalten.

Die Regierenden setzten sich über die Empfehlung der Kommission hinweg und nahmen den Sodomie-Paragrafen in das neue Strafgesetzbuch auf, mit Verweis auf das „Rechtsbewusstsein des Volkes“. Der Sodomie-Paragraf landete als Paragraf 175 im Gesetzbuch und stellte sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Als im Januar 1871 die Gründung des Deutschen Reiches erfolgte, wird der Paragraf auch in das Gesetz des deutschen Kaiserreiches übernommen.

1880 unternahm Ulrichs eine Reise nach Italien und sollte sein restliches Leben in Italien bleiben, wo er 1895 im Alter von 74 Jahren verstarb. Sein großes Ziel, die Sodomie-Gesetze zu verhindern, blieb ihm versagt, doch seine Theorien regten Wissenschaftler zur Forschung an und halfen anderen ihre sexuellen Triebe zu verstehen. Er trug wesentlich dazu bei, eine Gemeinschaft gleichgesinnter homosexueller Menschen zu schaffen.

1898 veröffentlichte Magnus Hirschfeld eine Neuausgabe von Ulrichs Publikationen. Im Vorwort schreibt er „Wenn einst die Nachwelt die Urnings-Verfolgungen in jenes traurige Kapitel eingereiht haben wird, in welchem die übrigen Verfolgungen andersgläubiger und andersgearteter Mitmenschen verzeichnet sind, dann wird der Name Karl Heinrich Ulrichs unvergessen dastehen. Als einer der ersten und edelsten, die in diesem Felde der Wahrheit und Nächstenliebe zu ihrem Recht verholfen haben.“

Weitere Orte mit K. H. Ulrichs:

  • Karl-Heinrich-Ulrichs Platz, Gärtnerviertel München / Karte
  • Odeon wo 1867 der Deutsche Juristentag tagte, heute Sitz des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren, Odeonsplatz 3, München / Karte

Bildergalerie Karl Heinrich Ulrichs

Weitere Orte & Audio-Beiträge

Hinweis Begrifflichkeiten:

Die in den Texten verwenden Begriffe, werden teilweise so verwendet, wie sie zur Zeit der queeren Held*innen üblich waren, wie zum Beispiel das Wort „Transvestit“, welches als Selbstbezeichnung von einigen Personen gewählt wurde. Dies würden wir heute viel differenzierter ausdrücken, unter anderem als Trans*, Crossdresser, Draq King, Draq Queen, Gender-nonkonform oder nicht binär. Sofern möglich, werden die Bezeichnungen gewählt, die die Person für sich (vermutlich) gewählt hatten, jedoch wissen wir teilweise nicht, wie sich die Personen selbst bezeichnet haben oder wie sie sich mit dem heutigen Wortschatz beschreiben würden.

Zudem wird auch das Wort „Queer“ verwendet, welches zur Zeit der meisten beschriebenen queeren Held*innen noch gar nicht existierte. Dennoch ist es heute das passendste Wort, um inklusive alle die zu bezeichnen, die nicht der heterosexuellen-cis-Mehrheit entsprechen.

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