Kurt Hiller (1885-1972)
24 - Geburtshaus Kurt Hiller
Wilhelmstr. 12, Berlin-Kreuzberg
Kurt Hiller war Schriftsteller und einer der bedeutendsten, aber heute vielfach vergessenen Vorkämpfer für die Rechte homosexueller Menschen im deutschsprachigen Raum. Als schwuler Jude, Sozialist und Pazifist war er Zeit seines Lebens Außenseiter und Ziel von Diskriminierung. In der NS-Zeit wurde er im KZ Oranienburg interniert und misshandelt. Er war einer der kompromisslosesten Stimmen für Emanzipation und Selbstbestimmung. Sein Wirken, insbesondere im Kampf gegen den §175, macht ihn zu einer Schlüsselfigur der frühen Schwulenbewegung.
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(dieser Text ist auch im Audio-Clip zu hören)
Geboren in ein wohlhabendes jüdisches Elternhaus in der Wilhelmstr. 12 in Berlin, brillierte Hiller bereits als Schüler am Askanischen Gymnasium und studierte anschließend Rechtswissenschaft und Philosophie. Bereits mit 23 Jahren fordert er in seiner Dissertation „Das Recht über sich selbst“ (1908) als einer der Ersten das Selbstbestimmungsrecht des Menschen – auch im sexuellen Bereich – und sprach sich klar gegen den §175 aus, der männliche Homosexualität kriminalisierte. Schon früh war Hiller überzeugt, dass sexuelle Orientierung angeboren sei und gesellschaftliche Repressionen psychische Probleme verursachten, nicht aber die Homosexualität selbst.
Hiller wurde 1908 Mitglied im Wissenschaftlich-humanitären Komitee (WhK), das Magnus Hirschfeld gegründet hatte, und stieg in den 1920er Jahren zu dessen zweitem Vorsitzenden auf. Neben seiner juristischen und politischen Arbeit war er ein profilierter Schriftsteller und Publizist, der unter anderem für die „Weltbühne“ schrieb und als einer der wichtigsten Theoretiker des literarischen Expressionismus galt. In seinem 1922 erschienenen Buch „§175. Die Schmach des Jahrhunderts“ legte Hiller eine für die damalige Zeit beispiellose, offene und wissenschaftlich fundierte Anklage gegen die Kriminalisierung homosexueller Männer vor. Er argumentierte, dass Homosexualität eine Naturerscheinung sei und gesellschaftliche Ausgrenzung zu Leid und psychischen Problemen führe. Er betonte die sozialen Umstände, in denen schwule Männer damals lebten. Psychische Probleme in dieser Gruppe seien kein Wesensmerkmal, sondern Folge gesellschaftlichen Drucks – ein Druck, den die Gesellschaft selbst erzeugte und dann verspottete. Thesen, die noch heute aktuell sind.
Hiller kritisierte nicht nur die Mehrheitsgesellschaft, sondern auch die Schwulen selbst: Sie sollten nicht um Akzeptanz betteln, sondern selbstbewusst ihre Rechte fordern. „Man muss fordern, nicht betteln!“, schrieb er und nahm damit den kämpferischen Geist der späteren Schwulenbewegung und der heutigen selbstbewussten Pride-Bewegung vorweg.
Er gründete 1926 die „Gruppe Revolutionärer Pazifisten“ zu der auch die Frauenrechtlerin Helene Stöcker sowie den Literaten Klaus Mann und Kurt Tucholsky gehörten.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Hiller als Jude, Sozialist und Homosexueller dreifach zur Zielscheibe. Im März 1933 wurden durch die SS viele Dokumente und Briefe aus seiner Wohnung Hähnelstr. 9 entwendet und vernichtet, u. a. von Sigmund Freud, Heinrich Mann, Thomas Mann und Albert Einstein. Ab Juni 1933 wurde er mehrfach verhaftet und in den frühen Konzentrationslagern schwer misshandelt. Zunächst wurde er Polizeigefängnis Columbia-Haus, dem späteren KZ Columbia festgehalten, dann in den KZs Brandenburg und Oranienburg. Durch das beharrliche Engagement seines Anwalts Dr. Flato und die Intervention von Rudolf Heß wurde er April 1934 aus dem KZ Oranienburg entlassen. Hiller floh zunächst nach Prag, später nach London, wo er weiterhin publizierte und sich für die Rechte Homosexueller engagierte. Aus dem Exil heraus war er einer der wenigen, die auf die Situation homosexueller Menschen im NS-Deutschland aufmerksam machten. Er publizierte auch Artikel über seine Erlebnisse in deutschen Konzentrationslagern.
Nach dem Krieg kehrte Hiller 1955 nach Deutschland zurück, lebte in Hamburg und versuchte, das WhK neu zu gründen – scheiterte aber an den gesellschaftlichen Verhältnissen der jungen Bundesrepublik. Als Publizist blieb er aktiv, veröffentlichte u.a. in der Schweizer Zeitschrift „Der Kreis“ unter dem Pseudonym und setzte sich weiterhin für die Rechte sexueller Minderheiten ein. Über sein Privatleben ist wenig bekannt; eine enge Beziehung verband ihn mit Walter Detlef Schultz, dem Programmdirektor des NDR.
Kurt Hiller verstarb am 1. Oktober 1972 in Hamburg. Die Urne mit seiner Asche wurde im Grab seines Freundes Walter Detlef Schultz beigesetzt.
Hillers Bedeutung für die Schwulenbewegung wurde lange unterschätzt. Seit der Jahrtausendwende bemühen sich die Kurt Hiller Gesellschaft sein Erbe sichtbar zu machen. 2000 wurde in Berlin-Schöneberg ein Park in Kurt-Hiller-Park durch auf Initiative des Berliner Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD) umbenannt und Steinskulpturen des Berliner Bildhauers Ajit Kai Dräger erinnern an Hiller als Mitbegründer der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung. Im Jahr 2021 wurde dort eine Gedenktafel eingeweiht.
Bildergalerie Kurt Hiller













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Weiterführende Links & Quellen:
- Online-Beitrag „Kampf für Schwulenrechte: «Man muss fordern, nicht betteln!»“ von Michael Freckmann, 2022
- Audio-Beitrag „21 Jahre im englischen Exil – Interview mit Kurt Hiller“, NDR Retro – Aus der Kultur · 17.08.1955
- Online-Artikel „Kurt Hiller -Jurist und Schriftsteller“ von Alexander Zinn, 2017
- Online-Artikel und -Biographie der Kurt-Hiller-Gesellschaft
Hinweis Begrifflichkeiten:
* Lili Elbe schreibt in ich ihren Memoiren und Briefen von den zwei Persönlichkeiten Lili und Einar, die sie in sich trägt. Von daher verwendet dieser Text auch deutlich den Klarnamen von Einar Wegener und respektiert damit beide Persönlichkeiten, so wie Lili dies auch selber getan hat.
Die in den Texten verwenden Begriffe, werden teilweise so verwendet, wie sie zur Zeit der queeren Held*innen üblich waren, wie zum Beispiel das Wort „Transvestit“, welches als Selbstbezeichnung von einigen Personen gewählt wurde. Dies würden wir heute viel differenzierter ausdrücken, unter anderem als Trans*, Crossdresser, Draq King, Draq Queen, Gender-nonkonform oder nicht binär. Sofern möglich, werden die Bezeichnungen gewählt, die die Person für sich (vermutlich) gewählt hatten, jedoch wissen wir teilweise nicht, wie sich die Personen selbst bezeichnet haben oder wie sie sich mit dem heutigen Wortschatz beschreiben würden.
Zudem wird auch das Wort „Queer“ verwendet, welches zur Zeit der meisten beschriebenen queeren Held*innen noch gar nicht existierte. Dennoch ist es heute das passendste Wort, um inklusiv alle die zu bezeichnen, die nicht der heterosexuellen-cis-Mehrheit entsprechen.
Ein Projekt von Rafael Nasemann angegliedert an die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin.
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