Alice Carlé (1902-1943)
23 - Stolperstein Alice Carlé
Beuthstr. 10, Ecke Axel-Springer-Str., Berlin-Mitte
das Audio ist leider noch fertig 🙁 kommt aber bald
Alice Carlé war eine jüdische Büroangestellte und lesbische Frau. Sie lebte mit Eva Siewert in einer Beziehung als die Nationalsozialisten den Krieg begannen. Als Eva von den Nationalsozialisten inhaftiert wurde, beraubten sie damit Alice um ihre Schutzmöglichkeit. Sie und ihre Schwester wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Eva Siewert erinnerte nach dem Krieg unter anderem in der Erzählung „Das Orakel“ an ihre geliebte Alice.
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(dieser Text ist auch im Audio-Clip zu hören)
Alice Carlé wurde am 7. Juni 1902 in Berlin geboren und wohnte in ihrer Kindheit in der Weberstraße 19 (heute Spielplatz Plansche Weydemeyerstraße). Nach ihrer Schulzeit ließ sich Alice zur Büroangestellten ausbilden.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 änderte sich das Leben für Alice und ihre jüdische Familie dramatisch. Die antisemitische Politik des Regimes führte dazu, dass die Familie zunehmend unter Druck geriet. Um 1938 waren Alice, ihre Eltern und ihre ältere Schwester Charlotte daher auch gezwungen, sich eine 2-Zimmer-Wohnung zu teilen – ein deutliches Zeichen der Verdrängung und Entrechtung jüdischer Bürger.
Inmitten dieser düsteren Zeit fand Alice jedoch auch Liebe und Hoffnung. 1938 lernte sie Eva Siewert kennen, eine ehemalige Chefsprecherin von Radio Luxemburg. Trotz der bedrohlichen Umstände lebten die beiden Frauen mutig ihre Beziehung. Sie liebten sich als Frauen, zu einer Zeit, in der Homosexualität nicht nur gesellschaftlich tabuisiert, sondern auch verfolgt wurde. Auch wenn sich Paragraph 175 nur auf Männer bezog mussten lesbische Frauen Schutzhaft oder andere Drangsalierungen der Strafbehörden erleiden.
Ab 1938 waren die beiden ein Paar und Alice übernachtete häufig in Evas Wohnung am Wittenbergplatz, wo sie sich sicherer fühlte als bei ihrer Familie. Alice Carlé wohnte um 1938 in der Nähe des Spittelmarktes, so konnten sich die zwei per U-Bahn ohne Umsteigen besuchen. Trotz der Gefahren und gesellschaftlichen Tabus entwickelte sich zwischen den beiden Frauen eine tiefe Beziehung. Eva, die nach Nazi-Kategorisierung als „Halbjüdin“ galt, bot Alice einen Zufluchtsort.
Die beiden versuchten bei allen möglichen Konsulaten Visa zu erhalten, doch als sich gerade eine Möglichkeit nach England auszureisen auftat, begann der 2. Weltkrieg und die Hoffnungen waren schlagartig verronnen. Die zwei Freundinnen besuchten eine Hellseherin die an Eva gerichtet voraussagte: „Erst kommen Sie weg.“ Dann blickte sie auf Alice: „Dann kommen Sie weg, sehr weit weg.“ Sie machte eine Pause […] „Dann sehen Sie sich nie mehr wieder.„
Am 12. August 1942 wurden die Eltern von Alice, Margarete und Nathan Moritz Carlé in das Ghetto Theresienstadt deportiert und wenig später ermordet. Mutmaßlich hatten ihre Töchter dies nie erfahren. Knapp drei Wochen nach dieser Deportation erfolgte ein Urteilsspruch gegen Eva Siewert. Sie wurde denunziert und wegen „Wehrkraftzersetzung“ zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Diese Inhaftierung hatte fatale Folgen für Alice, die nun einer wichtigen Schutzmöglichkeit beraubt war. Alice versuchte daraufhin mit ihrer Schwester Charlotte unterzutauchen.
In ihrem vorletzten Brief an Eva im Gefängnis hatte Alice noch verschlüsselt mitteilen können, dass sie und ihre Schwerster ihre Wohnung als unsicher betrachteten und verlassen mussten. Sie lebten nun in einem Versteck in der weiteren Umgebung Berlins, in dem Vorort Kladow, als Sommerfrischler.
In dieser Zeit standen Alice und Charlotte in Kontakt mit dem Widerstandskreis um den Juristen Franz Kaufmann. Er half verfolgten Juden mit falschen Papieren. Charlotte erhielt einen gefälschten Reisepass, und für Alice war ebenfalls einer in Arbeit.
Tragischerweise wurden Alice und Charlotte jedoch am 27. August 1943 von der Gestapo verhaftet. Ihre Adresse in Kladow war in den Papieren von Franz Kaufmann gefunden worden, als sein Helferkreis aufgedeckt wurde.
Zwei Wochen später, am 10. September 1943, wurden Alice und Charlotte Carlé nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden.
Eva Siewert, die ihre Gefängnisstrafe überlebte, setzte ihrer geliebten Alice nach dem Krieg ein literarisches Denkmal. Ihre Erzählungen »Das Orakel« ist ein berührendes Zeugnis ihrer Liebe und des Verlusts. Hier hielt sie fest: „Ich träumte oft, dass Alice an meine Tür klopfte und mich bat, sie zu verstecken, wie wir es verabredet hatten. Immer war sie auf der Flucht.“ [….] „Ich schrieb nach Tel Aviv. Dort lebte der Bruder, der Einzige der Familie, der schon 1934 ins Ausland entronnen war. Wir erhielten nie eine Antwort. Es klopfte nie an meiner Tür. Das Orakel hatte sich erfüllt.“
Heute erinnern vier Stolpersteine vor dem Haus in der Beuthstraße 10 in Berlin an Alice Carlé und ihre Familie. Die Wiederentdeckung der Geschichte von Eva und Alice erfolgte durch den Historiker Raimund Wolfert. 2018 wurde ein digitaler Gedenkraum unter eva-siewert.de eingerichtet, der ihre Leben würdigt.
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Weiterführende Links & Quellen:
- Digitaler Gedenkraum „Wer war Eva Siewert? 1907 – 1994“ von Raimund Wolfert
- Essay „Das Orakel“ von Eva Siewert, aus „der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums“, Jhg. 1, Nr. 37, 1946, S.5
- Online-Artikel „Eva Siewert (1907-1994) Kurt Hillers „Schwester im Geiste“ – „Wilde Freundschaft für Sie im Herzen meines Hirns“ von Raimund Wolfert
- Online-Artikel „Alice Carlé und Eva Siewert: Eine Liebesgeschichte“ von Raimund Wolfert
Hinweis Begrifflichkeiten:
Die in den Texten verwenden Begriffe, werden teilweise so verwendet, wie sie zur Zeit der queeren Held*innen üblich waren, wie zum Beispiel das Wort „Transvestit“, welches als Selbstbezeichnung von einigen Personen gewählt wurde. Dies würden wir heute viel differenzierter ausdrücken, unter anderem als Trans*, Crossdresser, Draq King, Draq Queen, Gender-nonkonform oder nicht binär. Sofern möglich, werden die Bezeichnungen gewählt, die die Person für sich (vermutlich) gewählt hatten, jedoch wissen wir teilweise nicht, wie sich die Personen selbst bezeichnet haben oder wie sie sich mit dem heutigen Wortschatz beschreiben würden.
Zudem wird auch das Wort „Queer“ verwendet, welches zur Zeit der meisten beschriebenen queeren Held*innen noch gar nicht existierte. Dennoch ist es heute das passendste Wort, um inklusiv alle die zu bezeichnen, die nicht der heterosexuellen-cis-Mehrheit entsprechen
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