Karl Giese (1898-1938)

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Als Karl Giese 1918 nach einem Vortrag des Arztes und Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zum Thema Homosexualität sich tags darauf bei ihm meldet, begann mit Hirschfelds Worten, eine „körperlich seelische Verbindung“, welche die beiden Männer bis zum Tode nicht mehr loslassen sollte. Der damals 20-jährige Karl ist fasziniert und angezogen vom 50-jährigen Hirschfeld, der von nun an bis zum Ende Lebensgefährte, Vaterfigur und Mentor sein wird. Hirschfeld ist Fokuspunkt des beruflichen und privates Leben von Karl Giese. mehr im Audio oder im Text weiter unten

Ort A: Stolperstein, Am Eingansportal Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Berlin-Tiergarten  Karte / Route

Ort B: Wohnort Kindheit Karl Giese, Schulstraße 17, nähe U-Bahnhofs Leopoldplatz, Berlin-Wedding  Karte / Route

Bildergalerie Karl Giese

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Weiterführende Links & Quellen:

Karl Giese stammte aus einer Arbeiterfamilie und wurde in Berlin Wedding 1898 geboren. Er mag das Theater und Literatur und spielt Rollen in der Gruppe „Theater der Eigenen“. Giese und Hirschfeld wirken 1919 mit im ersten „schwulen Film“ der Weltgeschichte „Anders als die anderen“ von Richard Oswald. Hirschfeld ist Co-Autor und Mitwirkender. Der Film handelt von einem schwulen Musiker, der von einem Sexarbeiter erpresst wird. Darin spielt Hirschfeld mehr oder weniger sich selbst, einen Arzt, der vermittelt, dass Homosexualität keine Krankheit ist. Karl Giese spielte einen jungen Violinisten, der Stunden beim Erpressten nimmt und eine Beziehung entsteht. Die erhaltenen Teile des Films sind auf Vimeo zu finden.

Karl Giese wird in Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft  zunächst als Sekretär, später als Leiter des Archivs und der Bibliothek angestellt. Er gibt Führungen durch das hauseigene Museum, hielt Vorträge die beliebt waren, da sie eine der wenigen Möglichkeiten waren sich  über sexuelle Fragen zu informieren, und half Hirschfeld beim Verfassen von Manuskripten.

Hirschfeld und Giese wohnten zusammen im Institut für Sexualwissenschaft. Ende der zwanziger Jahre ist das Zimmer von Giese im Institut ein Treffpunkt junger homosexueller Männer. Im Nachbargebäude des Instituts vermietet Magnus Hirschfelds Schwester Zimmer, häufig an  Homosexuelle, die auch aus gesellschaftlichen Gründen die Nähe des Instituts suchen. So treffen sich bei Giese regelmäßig viele Schwule wie der Archäologe Francis Turville-Petre und der englische Schriftsteller Christopher Isherwood. Hier findet Isherwood auch Inspiration für Charaktere seiner Bücher, die als Musical Cabaret weltbekannt werden.

Isherwood schreibt über Giese der „engagierte, ernsthafte, intelligente Veteran im Kampf um die sexuelle Freiheit (besaß) eine außergewöhnliche Unschuld“, … „Christopher sah in ihm den derben Bauernjungen mit dem Herzen eines Mädchens, der sich vor langer Zeit in Hirschfeld, seine Vaterfigur, verliebt hatte. Er nannte ihn ja auch seinen ‚Papa‘.“

1933 befand sich Hirschfeld auf einer Vortrags-Welttournee, so dass er die Plünderung seinen Instituts nicht direkt mitbekommen hatte, wohl aber Karl Giese.  Es muss ihn stark getroffen haben, als Archivar des Instituts zu sehen, wie sein Werk des letzten Jahrzehnts geplündert und dann verbrannt wird. Vermutlich stammt von ihm der Augenzeugenbericht über die Plünderung des Instituts am 6. Mai 1933.

Giese folgt nun Magnus Hirschfeld ins Exil zunächst nach Ancona. Hirschfeld Vorliebe für junge Kerle hat auf der Weltreise erneut zugeschlagen, so leben nun Hirschfeld und Giese zusammen mit dem Hongkonger Medizinstudenten Li Shiu Tong in einer „ménage à trois“. Im Pariser Exil unternahmen Hirschfeld und  Giese 1934 erfolglos den Versuch, das Institut für Sexualwissenschaft neu zu gründen. 1934 muss Giese Paris wegen einer „öffentlichen Badehaus-Affäre“ verlassen. Nach homosexuellem Sex wird er wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt und muss Frankreich verlassen.

Danach lebte er in Wien kommt aber 1935 noch einmal illegal nach Frankreich, um bei Hirschfelds Beerdigung dem geliebten Weggefährten die letzte Ehre zu erweisen. Beide Liebhaber ernennt Hirschfeld zu seinen Erben. Danach lebt Giese in Brünn, doch die Verarbeitung des Tods seiner Lebensliebe gelingt ihm nicht gut und er leidet unter Depressionen. Den drohenden Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Böhmen mit all ihren Repressionen vor Augen beging er im März 1938 schließlich seinen Suizid.

Im Februar 2016 wird vor Eingang des Hauses der Kulturen der Welt, der Ort des Instituts, ein Stolperstein für Karl Giese feierlich gesetzt. Ebenso ist daneben der Stolperstein von Recha Tobias der Schwester Hirschfelds zu finden. Über seine Vermieterin Recha Tobias schrieb Isherwoood „Sie lebte irgendwo weitab im rückwärtigen Teil der Wohnung, auf einer Lichtung innerhalb eines Schwarzwalds von Möbelstücken. Falls ihr hin und wieder Beischlafgeräusche ans Ohr drangen, dann beschwerte sie sich nie. Vielleicht war sie im Prinzip sogar damit einverstanden – schließlich war sie ja Hirschfelds leibliche Schwester.“ Recha Tobias wurde 1942 von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach Theresienstadt deportiert und ermordet.

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