Dora Richter (1892–1966)
Dora Richter war die erste Person, die sich einer kompletten Geschlechtsangleichung samt Vaginoplastik unterzog, weil sie sich nicht mit dem, ihr bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren konnte. Sie kam Anfang der 1920er Jahre in das Institut für Sexualwissenschaft nach Berlin, wo sie auch arbeitete. Das im Institut für Sexualwissenschaft erstellte Gutachten ermöglichte ihr später auch die offizielle Änderung ihres Namens in Dora. Sie wohnte bis 1934 in der Motzstraße Motzstraße 11 (ehemals 76). … mehr im Audio oder im Text weiter unten
Weitere Audio-Beiträge:
Bildergalerie Dora Richter
Weiterführende Links & Quellen:
- Online-Artikel „Was wurde aus Dora?“, von Oliver Noffke, veröffentlicht 1.6.2023, Berlin
Geschichte der ersten Geschlechtsangleichung: Vor 90 Jahren verschwand Dora Richter in Berlin | rbb24 - Online-Artikel „Dora ging nach Böhmen“ von Oliver Noffke, veröffentlicht 2.6.2024, Berlin
Dora Richter: Lebensabend einer Pionierin der trans* Geschichte | rbb24 - Online-Artikel „in böhmischen Dörfern“, von Clara Hartmann, in Lili-Elbe-Bibliothek – Trans* Bücher und Filme, 21.4.2023,
In böhmischen Dörfern · Lili-Elbe-Bibliothek
Dora Richter wurde 1892 im böhmischen Erzgebirge in eine arme Bauernfamilie geboren. Im Alter von 6 Jahren versuchte sie, ihren Penis mittels einer Schnur abzubinden. Ihr späterer Arzt dokumentierte 1932 dazu: „Rudolph (Dora) R., Hausangestellter, ist heute ein 40 jähriger ‚Mann‘. Er wurde im Erzgebirge geboren und ist das Kind gesunder Eltern, die noch mehrere Kinder haben, welche alle gesund und ohne Besonderheiten sind. Schon frühzeitig trat die heutige Neigung in dem Kind auf und äußerte sich darin, dass es versuchte, sich im Alter von 6 Jahren mittels einer Schnur den Penis abzubinden. Da ihm dies Organ lästig erschien versuchte er es auf diese Weise zu erreichen, dass es abfaule. Man bemerkte noch rechtzeitig diesen Versuch und konnte das Kind vor weiteren, schwierigeren Komplikationen bewahren: die Neigung zum weiblichen Tun und Treiben wurde jedoch immer stärker in ihm.“
Zusammen mit anderen Trans* Personen arbeitete sie im Haushalt des Institut für Sexualwissenschaft, welches von Magnus Hirschfeld gegründet wurde. Das Institut war ein sicherer Rückzugsort für Menschen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprachen. Dora konnte hier gleichgesinnte Treffen, mit ihnen Leben und Arbeiten, Frauenkleider tragen und auch Arbeit finden. Zusammen mit ihren Freundinnen Toni Ebel und Charlotte Charlaque, ebenfalls ehemalige trans*-Patientinnen des Instituts, wohnte sie in der Motzstraße 76 (heute 11). Ludwig Levy-Lenz erinnerte sich an Dora Richter und die „transvestitischen“ Dienstmädchen des Berliner Instituts: „… ich werde den Anblick nie vergessen, der sich mir bot, als ich einmal nach Feierabend in die Küche des Hauses verschlagen wurde: Da saßen die fünf ‚Mädchen‘ strickend und nähend friedlich nebeneinander und sangen gemeinsam alte Volkslieder. Jedenfalls war es das beste, fleißigste und gewissenhafteste Hauspersonal, das wir je gehabt haben. …
Als Hirschfeld erstmals 1910 über transgeschlechtliche Menschen veröffentlicht, kreiert er den Namen „Transvestiten“. Er vermutet einen erotischen Verkleidungstrieb. Dass Trans* Personen sich ihrem geschlechtsempfinden nach Kleiden, kann sich Hirschfeld zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen. Dora Richter ist die Person, die Hirschfelds Phantasie erweitert und seine wissenschaftliche Meinung umgestimmt hat. Er erkennt dass auch operative Eingriffe notwendig sein können.
Zunächst ließ sich Dora 1923 im Institut für Sexualwissenschaft kastrieren, nach einigen Jahren, viel Bitten und Drängen wurde ihr 1931 auf ihr verlangen der Penis amputiert. Im Juni 1931 wurde ihr im Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg durch den Chirurg Erwin Gohrbandt als erster Trans* Patientin die Neovagina – eine künstliche Scheide – geformt. Nach Ihr wurden auch bei ihren Freundinnen Toni Ebel und Charlotte Charlaque die Geschlechtsangleichung durchgeführt. Auch Lili Elbe wird im Institut operiert. Ihre Geschichte ist heute durch den Film „The Danish Girl“ international bekannt.
Vieles was damals geschah erinnert an Laborexperimente am Menschen, allerdings forderten dies auch viele der leidenden Trans* Personen nachdrücklich von den Ärzten ein. Bei den Ärzten mag der Drang zu helfen aber sicher auch das wissenschaftliche Prestige Motivation gewesen sein.
Am 6. Mai 1933 wird das Institut für Sexualwissenschaft von den Nazis geplündert und daraufhin geschlossen. Dora Richter arbeitet nun in Berlin als Blumenverkäuferin und beantragt 1934 erfolgreich die Namensänderung in Prag. Sie konnte sich von nun an offiziell „Dora Rudolfa Richterová“ nennen.
Sie immigriert wie ihre Freundinnen Toni Ebel und Charlotte Charlaque in Ihre Heimat nach Böhmen. Dora wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben und zog ins Westdeutsche Allersberg, wo die Pionierin der Trans* Geschichte am 26. April 1966 als 74jährige Frau verstarb.
Hinweis Begrifflichkeiten:
Die in den Texten verwenden Begriffe, werden teilweise so verwendet, wie sie zur Zeit der queeren Held*innen üblich waren, wie zum Beispiel das Wort „Transvestit“, welches als Selbstbezeichnung von einigen Personen gewählt wurde. Dies würden wir heute viel differenzierter ausdrücken, unter anderem als Trans*, Crossdresser, Draq King, Draq Queen, Gender-nonkonform oder nicht binär. Sofern möglich, werden die Bezeichnungen gewählt, die die Person für sich (vermutlich) gewählt hatten, jedoch wissen wir teilweise nicht, wie sich die Personen selbst bezeichnet haben oder wie sie sich mit dem heutigen Wortschatz beschreiben würden.
Zudem wird auch das Wort „Queer“ verwendet, welches zur Zeit der meisten beschriebenen queeren Held*innen noch gar nicht existierte. Dennoch ist es heute das passendste Wort, um inklusive alle die zu bezeichnen, die nicht der heterosexuellen-cis-Mehrheit entsprechen.
© 2024, Rafael Nasemann, alle Rechte vorbehalten