Charlotte von Mahlsdorf (1928-2002)
Charlotte von Mahlsdorf passt in keine Schublade, so dass ihr wahrscheinlich ebenso das Wort Trans* nicht richtig passte. Ihr Leben war stark beeinflusst durch das wandelnde politische Umfeld mit Nazis, DDR-Regime und schließlich dem wiedervereinigten Deutschland. Sie war der bekannteste Transvestit der DDR und erhielt für ihr Lebenswerk 1992 das Bundesverdienstkreuz. Sie ermöglichte geschützte Räume während der DDR-Diktatur für queere Personen mit der Bar Mulackritze und ihrem Gutshof in Mahlsdorf und bewahrte Geschichte im von ihr begründeten Gründerzeitmuseum … mehr im Audio oder im Text weiter unten
Weitere Audio-Beiträge:
Bildergalerie Charlotte von Mahlsdorf
Weiterführende Links & Quellen:
- Gründerzeitmuseum: Das von Charlotte von Mahlsdorf aufgebaute Museum im Gutshaus Mahlsdorf bei Berlin ist für Besuchende Mittwoch und Sonntag von 10-18 Uhr geöffnet.
Gründerzeitmuseum | Home (gruenderzeitmuseum-mahlsdorf.de) - Buch „Ich bin meine eigene Frau: Ein Leben“, von Charlotte von Mahlsdorf, Berlin, 1992,
Ich bin meine eigene Frau – von Mahlsdorf, Charlotte – Dussmann – Das Kulturkaufhaus - [in Englisch] Podcast-Episode “Charlotte von Mahlsdorf“ des Podcasts “A history, most queer”, 30.8.2023, 41min
https://podcasts.apple.com/de/podcast/charlotte-von-mahlsdorf/id1677460165?i=1000626156533
Charlotte von Mahlsdorf wurde am 18. März 1928 in Berlin-Mahlsdorf noch mit männlichem Vornamen und dem Nachnahmen Berfelde geboren. Der gewalttätige Vater drangsaliert die Familie und den zarten Jungen, der früh merkt, dass er eine Frau sein möchte. Als der Vater sie in Frauenkleidern erwischt, brüllt er sie an und fordert von ihr, dass sie stattdessen ein Soldat werden solle. Hilfe fand sie bei ihrem Großonkel, der sie unterstützt und ihr Geborgenheit schenkt und sie liebevoll „Lottchen“ nennt. Er kauft ihr die von Charlotte ersehnte Mädchenschürze. Erstaunlich ist auch, dass sie im Haushalt der Tante das Buch von Magnus Hirschfeld „Die Transvestiten“ findet und sich so beginnt einen Reim auf ihre Gefühle und Identität zu machen. Den Begriff Transvestit wird sie auch für sich nutzen, denn Charlotte von Mahlsdorf nutzt das Wort trans nicht. Sie bezeichnet sie sich als Transvestit, als Frau, als Mädchen oder als weibliches Wesen.
1944 eskaliert die Lage zu Hause und Charlotte erschlägt ihren Vater im Schlaf mit dem Nudelholz und wird daraufhin zu 4 Jahren Jungendhaft als „asoziale Jugendliche“ verurteilt. Zu Kriegsende wird sie bereits aus dem Gefängnis entlassen.
Bereits zu dieser Zeit zeigt sich Ihre Sammelleidenschaft. „Mein Bestreben, zu bewahren, ist stärker als alles andere“, sagt sie und sichert in der Nachkriegszeit alte Möbel und Einrichtungsgegenstände vor dem Verlust. Sie übernimmt in Mahlsdorf ein vom Abriss bedrohtes Gutshaus, welches sie in Eigenregie langsam herrichtet und eröffnet 1960 dort ihr Gründerzeitmuseum, was in den Folgejahren stetig grösser und zum Geheimtipp avanciert. 1974 kündigten die Behörden an, das Museum zu verstaatlichen, worauf Charlotte von Mahlsdorf begann, ihre Museumsstücke lieber an Besuchende zu verschenken. Die Verstaatlichung konnte verhindert werden und sie leitete das Museum bis 1995.
Charlotte besuchte gerne die Berliner Schwulenkneipe Ellis Bierbar in Kreuzberg. Als 1960 die Musikmaschine einmal nicht funktionierte, holte sie von zu Hause ihr Grammophon und Platten und legte seitdem regelmäßig dort auf und ist damit eine der ersten Berliner DJs. Allerdings ist diese Karriere schon 1961 mit der DDR-Grenzschließung unterbunden.
Charlotte von Mahlsdorf rettete 1964 die letzte vollständig erhaltene Berliner Kneipe des Scheunenviertels, die Mulackritze, vor dem Abriss. Es war eine berühmte Künstlerkneipe der 1920er Jahre, wo prominente queere Meschen verkehrten, wie Gustav Gründgens, Claire Waldoff oder Marlene Dietrich. Charlotte transportierte selbst die komplette Inneneinrichtung per Handwagen in ihr Gutshaus und richtete sie dort im Untergeschoss im Originalzustand ein. In der umgezogenen Kneipe finden Zusammenkünfte und Feiern der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlins (HIB) statt, so dass die Schwulen- und Lesbenszene im Umfeld des Museums einen gemeinschaftlichen Rückzugsort findet. Das Gutshaus wurde zu einem wichtigen inoffiziellen Treffpunkt von queeren Menschen in der DDR.
Charlotte arbeitete auch im Märkischen Museum als Konservatorin, jedoch wird ihr Vertrag nicht mehr verlängert, nachdem sie zu einer feierlichen Veranstaltung in einem Kleid erscheint. Dieser und anderer Formen der Diskriminierung stellt sie Zeit Ihres Lebens eine große Selbstverständlichkeit als Frau zu leben entgegen. Charlotte musste sich aber auch mit dem System in der DDR arrangieren, so gehört es ebenso zu ihrer Geschichte, dass sie als inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit geführt wurde.
1989 veröffentlicht sie ihre Biografie „Ich bin meine eigene Frau.“ Wo sie zusammenfassend über sich schreibt „Schon zu DDR-Zeiten passte ich in kein Kästchen, und selbst heute noch bin ich für manche eine schräge Figur.“ Rosa von Praunheim verfilmte das Buch 1992. Im gleichen Jahr erhielt Charlotte von Mahlsdorf das Bundesverdienstkreuz.
1991 überfielen etwa 70 Neonazis ihr Frühlingsfest der Lesben und Schwulen auf dem Gutshof. Auch aufgrund dieses Überfalls emigrierte sie 1997 nach Schweden, wo sie ein neues Jahrhundertwende-Museum eröffnete.
Bei einem Besuch in Berlin verstarb sie 2002 überraschend.
Ihr Erbe ist weiterhin sichtbar, das Gründerzeitmuseum mit Mulackritze ist öffentlich als Museum zugänglich, in der Nähe befindet sich der „Charlotte-von-Mahlsdorf-Ring“ und ihr Grab in Mahlsdorf wird als Ehrengrab gepflegt.
© 2024, Rafael Nasemann, alle Rechte vorbehalten